(In Bearbeitung, zuletzt aktualisiert am 18. Mai 2018)

José Sánchez de Murillo

(Authentischer Bericht. Andere Darstellungen über Sánchez' Leben und Werk sind meist historisch und sachlich unzutreffend.)

Allgemeines

José Sánchez de Murillo ist ein in Südspanien geborener Philosoph und Dichter, der in deutscher Sprache denkt und schreibt.

Sein philosophischer Ansatz geht auf Jakob Böhme (Görlitz 1575–1624) zurück, den Hegel „den ersten deutschen Philosophen“ und Schelling eine „Wundererscheinung in der Geschichte der Menschheit“ nannte. Sánchez de Murillo bezeichnet Jakob Böhme als den „Deutschen Vorsokratiker“. Für diese Art ursprünglichen Philosophierens prägte Sánchez Ende der siebziger Jahre den Begriff Tiefenphänomenologie, den er erstmalig 1980 in seiner Habilitationsschrift programmatisch bekanntgab.
In der Böhme-Forschung wird gefragt: „Was sagen Denker wie [[Martin Buber]] Sánchez de Murillo und andere in unserer Zeit zu Jakob Böhme?“ Die Antwort lautet: „José Sánchez de Murillo entdeckt bei JB eine Denk- und Arbeitsweise, die aus seiner Sicht anders ist als die übliche Philosophie. Er stuft JB als Vertreter einer anderen Wissenschaft ein, die er Tiefenphänomenologie nennt. Das ist eine Urphilosophie, die das menschliche Denken zu seinen Ursprüngen, zum Sinn des Lebens zurückführt.“
Tiefenphänomenologie stellt die philosophische Übersetzung vom Jakob-Böhme'schen Ungrund dar und hat also weder historisch noch sachlich etwas mit neuzeitlichen Formen von Phänomenologie gemeinsam. Die Begegnung mit dem Philosophus Teutonicus veranlasst einen Neubeginn – gleichsam eine Neue Vorsokratik –, die dem zu entsprechen versucht, was sich seit 2002 in der digitalen Ära ereignet.
Für diesen Flug vom Etablierten ins Offene und Ungewisse war die gedankliche Vermittlung des Münchner Arztes, des „Bohemius redivivus“ Franz von Baader (München 1765–1841) von fundamentaler Bedeutung.

Anm.1: Vgl. José Sánchez de Murillo, Jakob Böhme – Der deutsche Vorsokratiker.
Zur Gegenwart und Zukunft der Philosophie. In: Erkenntnis und Wissenschaft
- Jakob Böhme (1575-1624), Internationales-Jacob-Böhme-Symposium Görlitz 2000
(= Neues Lausitzisches Magazin, Beiheft 2). Görlitz-Zittau 2001, 128–153).
Die einschlägige Internetseite (zu Jacob Böhme, Martin Buber, José Sánchez de Murillo)
wurde von Thomas Isermann vom Internationalen Jacob-Böhme-Institut Görlitz e.V.
inhaltlich erstellt und von Jürgen Knospe gestaltet, vgl. auch http://www.jacob-boehme.org/
(IJB) Martin Bubers Dissertation von 1904 lautete: "Zur Geschichte des Individuationsproblems:
Nikolaus von Cues und Jakob Böhme" (vgl. Martin Buber "Über Jakob Böhme"
Wiener Rundschau V, 15. Juni 1901), Sánchez Habilitationsschrift erforschte Jakob Böhme
und dessen Rezeption bei Franz von Baader und der deutschen Romantik; darin legte er den Grund
für eine noch im Entstehen befindliche neue Art wissenschaftlichen Denkens. -

Anm.2: Das Verhältnis der Tiefenphänomenologie zur abendländischen Denk- und Wissenschafts-
geschichte stellt Sánchez in "Der Geist der deutschen Romantik" (München, 1986) dar,
vgl. "C. Die Wende des Denkens aus dem technischen Zeitalter. Der Prozess der Umkehrung des
Menschen in seinen Wesensursprung" (S. 339-372); zur neuzeitlichen Entwicklung der Phänomenologie als
ausgesprochen ober-flächiger Weise des Philosophierens siehe "Die Selbstgefährdung der Phänomenologie" (ib. S. 351-358; insbesondere S. 356 Anm. 18). Zwischen neuzeitlicher Phänomenologie und Tiefenphänomenologie
liegen Welten. Deshalb sind die Annäherungsversuche unfruchtbar - und auch verhängnisvoll.
Historische Konsequenzen dieser verhängnisvollen Unfruchtbarkeit werden offengelegt
in: "Zur Entstehungsgeschichte der Tiefenphänomenologie. Offizieller Bericht" (Webseite des
Edith Stein Instituts: www.edith-stein-institut-muenchen.de)
Anm.3: Zum Gesamtzusammenhang vgl. José Sánchez de Murillo, Meister Eckart und Jakob Böhme:
Ganz anders unterwegs zum Selben, in: Eine Lichtung des deutschen Waldes: Mystik und Idealismus,
hg. von Andrés Quero-Sánchez, Leiden/Boston (BRILL) 2017 (Studies on Mysticism, Idealism
and Phenomenology / Studien zu Mystik, Idealismus und Phänomenologie.

Inhaltsverzeichnis

Leben
Philosophischer Ansatz

I. Tiefenphänomenologie. (1980)
     1 Die Deutsche Romantik
     1a. Das Experiment Baader (1765–1841)

II. Der Deutsche Vorsokratiker : Jakob Böhme (1575–1624)
     1. Die „Vierthelstunde“ (1600)
     2. Die Natursprache
     3. Der Ungrund
     4. Die Entdeckung der Tiefenphänomene (1600–1624)

III. Die Neue Vorsokratik (2002)

     Historische Vorbemerkung

A. Abschied vom Elfenbeinturm
     1. Grenzen des Interpretierens
     2. Vergänglichkeit und Unstetigkeit: Fundamentalethik
     3. Die Fundamente des Abendlandes wackeln
          a) Die Verkehrung des Christentums
          b) Die Verengung des Denkens
B. Zurück zum Leben
     1. Das Grab von Malipiero
     2. Malinwska: Das tote Mädchen, das lebt
     3. Exil: Das Wehr von Mundraching
     4. Leben im Aufgang: Die Werkstatt Am Bromberg
     5. Ratjahama: Hervorgang der Lichtgestalt im digitalen Zeitalter
     6. Kosmischer Drang (Sehnsucht und Gier): Was tritt an die Stelle des Menschen?

IV. Ausblick
     Fundamente einer aufkeimenden Zivilisation
     1. Erhellung des Christentums
     2. Mythologie des Universums

Leben
José Sánchez de Murillo wurde am 8. Februar 1943 als Sohn des Miguel Sánchez und dessen Ehefrau María Rodríguez Murillo in Ronda geboren. Naturwissenschaftliches Abitur Mai 1960 in Córdoba/Spanien; im Oktober desselben Jahres Eintritt in den Teresianischen Karmelitenorden.
1961–1963 Studium der scholastischen Philosophie und Musik (Orgel, Accompagnement) an der „Université Catholique“ in Lille. Oktober 1963 Studium der Theologie und spanischen Mystik am Teresianum in Rom. Im Juni 1968 stirbt sein Vater – eine der wichtigsten Personen seines Lebens. Oktober 1970 Promotion zum Dr.theol. in Rom mit einer Arbeit über die Theologie Karl Rahners. WS 1970/71 Lehrtätigkeit daselbst.

SS 1971 Beginn des Philosophiestudiums in Würzburg. 1976 Promotion zum Dr.phil. mit einer Dissertation über die Phänomenologie Jean-Paul Sartres. Ab 1977 Erforschung der deutschen Romantik, des deutschen Idealismus, besonders Jakob Böhmes. Forschungsaufenthalte in Guatemala und Mexiko. Studium der Maya-Kultur. Die Begegnung mit dem Elend und der Ausbeutung in diesen Ländern erschütterte Sánchez. Am 23. Februar 1983 erfolgte die Habilitation für das Fach Philosophie an der Universität Augsburg mit einer Habilitationsschrift über Franz von Baaders Rezeption Jakob Böhmes; daraufhin wurde ihm die venia legendi durch das Bayerische Kultusministerium erteilt. Lehrtätigkeit in Augsburg. Daselbst Mitglied des Lateinamerikanischen Instituts.

Februar 1989 Professor für Deutsche Philosophie der Gegenwart an der Universität Granada/Spanien. Im Januar 1992 stirbt seine Mutter in Vélez-Málaga.

Im Juli 1992 kehrt Sánchez nach Deutschland zurück. Entwurf des Konzeptes eines Edith Stein Instituts in München für Phänomenologie und Tiefenphänomenologie e.V., dessen Vorsitzender er ist. Zu diesem Konzept gehörte die Gründung eines Edith Stein Jahrbuchs, das er bis 2003 beim Echter Verlag herausbrachte. Im Wintersemester 1994/95 lehrte er Philosophie am Teresianum zu Rom. Im Januar 1995 besuchte er Luise Rinser in Rocca di Papa. Aus dieser Begegnung entstand eine enge Freundschaft, die für beide menschlich und literarisch wichtig wurde. Luise Rinser veranlasste die philosophisch-meditative Schrift „Das Fünklein Mensch“ über Jakob Böhme (München 1997) und das Epos „Dein Name ist Liebe“ (Gladbach 1998), das sie mit einem Vorwort versah.

Im September 1999 entscheidet er, sich in die Berge der Axarquía (bei Málaga), unweit des Sterbeortes seiner Mutter, zurückzuziehen, um sich ausschließlich der Niederschrift seines Werkes zu widmen. In regelmäßigen Abständen kommt er nach München, um sich um die Angelegenheiten des Instituts und des noch laufenden Edith Stein Jahrbuchs zu kümmern. 2003 gründete er – zusammen mit Prof. Dr. Martin Thurner – die neue Reihe „Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik“ (bei Kohlhammer). 2011 veröffentlichte er bei Fischer die erste umfangreiche Biografie über Luise Rinser. An diesem Buch arbeitete auch ihr Sohn Christoph Rinser mit. Dafür und für seine philosophisch-wissenschaftliche Arbeit wurde Sánchez am 20. Juni 2014 im Rahmen der Tagung „Musik und Spiritualität“ in St. Ottilien der Luise-Rinser-Preis verliehen.

2014 wurde der Aufgang Verlag mit Sitz in Augsburg gegründet. Zu dessen ersten Veröffentlichungen gehört Sánchez' Abhandlung „Über die Sehnsucht. Urgrund und Abgründe“ (2015). Für Mai 2018 ist „Eine Krankheit unserer Zeit: Gier“ angekündigt.

Anm.1: Ronda, die Stadt auf dem Felsen über dem Abgrund, faszinierte Rainer Maria Rilke.
Ernest Hemingway, Luise Rinser. Rondas magische Aura prägte wesenhaft José Sánchez.
Dessen Fähigkeit, Denker wie Meister Eckhart, Jakob Böhme, Johannes vom Kreuz, Hölderlin,
Baader, Antonio Machado mühelos nachzuvollziehen geht auf diese frühe Wesensprägung
zurück. Die Evidenz, dass das Sein unaufhörlich aus dem Ungrund hervorgeht war die
grundlegende Erfahrung seines Lebens. – Ebenso grundlegend war die stille, unbedingte
Liebe seines Vaters. Vgl. Der dichterische Zauber einer Stadt/El embrujo poético de
una ciudad. Luise Rinser und/y Ronda. Hg. von José Sánchez de Murillo, Christoph Rinser,
Martin Thurner. Schriften der Luise-Rinser-Stiftung, Stuttgart 2007.
Philosophischer Ansatz

I. Tiefenphänomenologie
     1. Die Deutsche Romantik

Ab 1977 erforschte Sánchez die Deutsche Romantik, bei der er eine lebensnahe Alternative zur etablierten Form der Philosophie vermutete.

     1a Das Experiment Baader
Einige Teile dieser Forschungen legte Sánchez als Habilitationsschrift vor. Sie betrafen Franz von Baader, der Sánchez als ausgezeichneter Exponent der Epoche galt. Dort versuchte er das naturwissenschaftliche Anliegen der Epoche zu erfassen. So heißt der erste Teil seines Hauptwerks: „Die begriffliche Selbstdarstellung des romantischen Geistes im Werke Baaders. – Die Auseinandersetzung mit Kant und der Aufgang im dichterischen Philosophieren Jakob Böhmes.“
Aus dem hermetischen Werk Baaders arbeitete Sánchez eine Entwicklungslinie der romantischen Bewegung heraus. 1) Von der mechanischen zur dynamischen, 2) von der dynamischen zur organischen Philosophie. Den Umbruch von der dynamischen zur organischen Auffassung bewirkte Baaders Entdeckung Jakob Böhmes.

Anm.: Sánchez' Habilitationsschrift trug den Titel: Der Geist der deutschen
Romantik. Franz von Baaders Versuch einer Erneuerung der Wissenschaft.
Von Kant zu Jakob Böhme. (1980) Nach fünfjähriger Überarbeitung wurde
die Arbeit 1986 beim Verlag Dr. Friedrich Pfeil, München herausgebracht.
Der Haupttitel blieb. Der Untertitel lautete: Der Übergang vom logischen
zum dichterischen Denken und der Hervorgang der Tiefenphänomenologie,
vgl. S. 125-186, 259-338.

     1. Die „Vierthelstunde“
     2. Der Ungrund und die Sprache der Dinge
     3. Die Entdeckung der Tiefenphänomene (1600–1624)

1. Die „Vierthelstunde“
Die deutsche Vorsokratik begann mit einem Umsturz. Durch Galilei, Kopernikus, Kepler war das Weltbild umgekehrt worden. Dem Menschen wurde der Boden entzogen. Die allgemeine Unsicherheit fand im persönlichen Leben seine Entsprechung.
Im 19. Kapitel seines Erstlingswerkes „Morgenröthe im Aufgang“ berichtet Jakob Böhme den Wendepunkt seines Lebens. Er war, würden wir heute sagen, durch den Anblick einer ontologischen Unordnung deprimiert. Menschliche Gemeinheit, Krankheit, Naturkatastrophen. Überall fand er „Liebe und Zorn, in den unvernünftigen Kreaturen als wie in Holz, Steinen, Erden und Elementen“ sowohl in Menschen als in Tieren. Vor allem befand er, dass es ungerecht zuging in der Menschenwelt. „4. Ward ich derowegen ganz melancholisch und hoch betrübet 10. Als sich aber in solcher Trübsal mein Geist (...) ernstlich in Gott erhub und mein Herz und Gemüte samt allen andern Gedanken und Willen (...) mit der Liebe und Barmherzigkeit Gottes zu ringen (...) so brach der Geist durch. 11. (...) – alsbald (...) ist mein Geist durch der Höllen Porten durchgebrochen bis in die innerste Geburt der Gottheit (...) 12. Was aber für ein Triumphieren im Geiste gewesen, kann ich nicht schreiben oder reden.“ In einem ‘Sendbrief’ berichtet Böhme, dass er in einer ‘Vierthelstunde’ mehr gesehen habe, als wäre er viele Jahre in hohen Schulen gewesen. Was war geschehen? Sein Freund und Anhänger Abraham von Franckenberg berichtet: „(...) mit des 17. Saeculi Anfang, nämlich (...) anno 1600, also im 25. Jahr seines Alters, (wird er) zum andern Mal vom göttlichen Lichte ergriffen (...) durch einen gählichen Anblick eines zinnern Gefäßes (als des lieblich jovialischen Scheins) zu dem innersten Grunde der geheimen Natur eingeführt. Da er (...) um solche vermeintliche Phantasie aus dem Gemüte zu schlagen zu Görlitz vor dem Neißtore (allwo er an der Brücke seine Wohnung gehabt) ins Grüne gegangen, und doch (...) solchen Anblick (...) klarer empfunden, also dass er vermittels der angebildeten Signaturen gleichsam in das Herz und die innerste Natur hineinsehen können (...) wodurch er mit großen Freuden überschüttet, stille geschwiegen, Gott gelobt, seiner Hausgeschäfte und Kinderzucht wahrgenommen und mit jedermann fried- und freundlich umgegangen und von solchem seinem empfangenen Lichte und inneren Wandel (...) wenig oder nichts gegen jemanden gedacht.“
Zwei Seiten hatte das Erlebnis: 1. Das zinnerne Gefäß glänzte. Dunkelheit und Helle bilden die Ureinheit, die erst in der Ober-Fläche des Seins sich entzweit: Alles ist in einem es selbst und das Gegenteil. So ist im Guten stets zugleich das Böse enthalten, ebenso wie das Böse die Umkehrung des Guten verwirklicht. 2. Der Leib spiegelt die Lebensgeschichte der Dinge wider. Aus einem Baum kann man die Geschichte des Waldes; aus einem Gesicht die Geschichte des Menschen herauslesen. Das ist die Signatur. Die äußere Gestalt offenbart demjenigen den inneren Sinn, der die Buchstaben der Natur zu lesen vermag. Das nennt er Natursprache.
Damit war die Grundunterscheidung getroffen: Tag und Nacht, Tiefe (‘Tiffe’) und Ober-Fläche, Wesen und Schein als Urdimensionen. Das zinnerne Gefäß hatte ihm gezeigt, dass der Urstoff der Materie Licht ist. Die Kugel, mit der er sein Erlebnis symbolisiert, ist zugleich dunkel und hell, also nicht die eine Hälfte hell und die andere Hälfte dunkel, wie man sie notgedrungen zu zeichnen pflegt, sondern zugleich dunkel und hell. Er drückte es auch so aus: Im Ja und Nein bestehen alle Dinge oder Was oben ist, das ist auch unten und alles ist ein Ding.
Doch der Teutonicus war alles andere als naiv. Der erste Zweifler war er selbst. Der Beweis der Echtheit seines Erlebnisses waren der Glaube an sich selbst und die Arbeit. Jahrelang hat er an seinem Konzept gearbeitet: „14. Weil ich aber nicht alsbald die tiefsten Geburten Gottes in ihrem Wesen konnte fassen und in meiner Vernunft begreifen, so hat sichs wohl zwölf Jahr verzogen, ehe mir ist der rechte Verstand gegeben worden, und ist gangen wie mit einem jungen Baume.“
Seine Frage war: Woraus ist alles entstanden? Darauf antwortet er. Nicht aus dem Nichts, denn aus nichts wird nichts. Es muss etwas sein, wenn auch nur die Möglichkeit zu etwas, um Gestalt anzunehmen. Dieses Nichts, das Etwas ist, ohne aufzuhören, unfasslich zu sein, nennt er Ungrund.
Un-Grund: Das Wort verneint, was es bejaht – und weist damit auf die Urenergie der Schöpfung hin. Durch die Dinge hindurch durchscheinen die Möglichkeiten, die aus den unzähligen Kombinationen des Grundes und seiner Negation hervorsprudeln. Ununterbrochene Schöpfung – ein ungeheures Geschehen, das sich selbst trägt. Die auseinandergegangenen Partikeln drängen wieder zusammenzukommen. Strom, Elektrizität. So funktioniert der Kosmos. Das Ganze ist, wie Baader es ausdrückte, Verflechtung, Beziehung von Beziehungen, die elektrisch geladen sind. Hegel bewunderte Jakob Böhme, er verdiene den Namen Teutonicus, bemängelte aber „diese Tiefe, roh und barbarisch“, sei ohne Begriff, nehme die Wirklichkeit als Begriff. In der Tat, Böhme kennt weder Begriffe noch Kategorien. Was Böhmes Sehen entdeckt, sind die Tiefenphänomene, die den Kosmos tragen und ihn durchdringen.
Die Tiefenphänomene sind früher als die Zeit und der Kosmos, früher als Gott. So scheut er sich nicht zu sagen, er beschreibe die Geburt der Gottheit. Die Tiefenphänomene nennt er Gestalten der Ewigen Natur. Es geht um den Prozess, der geschieht, bevor etwas ist. Bis in den Formulierungen spüren wir das Denken von Meister Eckardt – ein anderer Exponent der Traditionen der höheren Philosophie.

2. Die Entdeckung der Tiefenphänomene (1600–1624)
Jakob Böhme betont, 1) es seien nicht sieben im numerischen Sinne, sondern Momente einer einzigen Bewegung, die er auseinanderhalten muss, um sie darstellen zu können; und 2) Die genannten Eigenschaften seien nicht materiell, sondern geistig zu verstehen. Heute würden wir sagen, sie seien nicht ontisch, sondern ontologisch zu nehmen. Er nennt Sieben Gestalten der Ewigen Natur, also Sieben Momente, durch die der Prozess der Seinsgenese gehen muss, um überhaupt stattfinden zu können. Diese Momente sind: a) Begierde oder Einfassen (bitter), b) Scienz, Ziehen oder Stachel (bitter), c) Angst, d) Feuer, e) Licht, Liebe, f) Schall, Hall, Wort, g) Wesen, Gehäuse. Böhmes Gestalten der Ewigen Natur sind weder Bilder noch Archetypen noch Strukturen. Es sind Momente des ‘eigentlichen Prozesses’. „Seinsgenese“ nennt Sánchez diesen Urprozess. Der vollständige Titel des Erstlingswerkes lautet: „Morgenröthe im Aufgang, das ist die Wurzel oder Mutter der Philosophiae, Astrologiae und Theologiae aus rechtem Grunde, oder Beschreibung der Natur, wie alles gewesen und im Anfang worden ist.“ Die epochale Dringlichkeit seines Unternehmens ist einsichtig. Mitten im Umbruch suchte der Mensch nach seiner Rolle, nach dem Sinn seiner selbst.
Wohin mit uns in der völlig neuen Welt? Das war einst seine Frage. Das ist auch unsere Frage. Böhme entwirft ein kosmologisches Konzept, an dem ein „englisches Wesen“ das Ganze durchsichtig werden lässt. Englisch, von Engel, lichtes, fliegendes Wesen, das aus dem hervorbrechen will, was bisher Mensch genannt worden ist. In der Entstehungsgeschichte der Tiefenphänomenologie ist nicht nur Böhmes Werk, sondern vor allem seine Gestalt von entscheidender Bedeutung. In der zerbrechlichen Konkretheit eines geschichtlichen Augenblicks offenbart sich durch die Erfahrung der kosmischen Urtiefe, zwar noch unsicher, aber immer deutlicher das Ziel eines neuen Daseins.

Anm.: „jovialischer Schein“, lat. Iovialis = zu Jupiter (lat. auch Iovis)
gehörig. Zu Jakob Böhmes Erlebnis vgl. A. von Franckenberg, Ausführlicher
Bericht. In: Jakob Böhmes Sämtliche Werke. Bd. 10, Stuttgart 1961, 27. Zur Natursprache vgl. J. Böhme, De Signatura rerum, 1, 15-16, 7. Die These,
dass Jakob Böhme Newtons Physik beeinflusst hat, ist bereits erforscht worden.
Vgl. etwa S. Hobhouse, Isaak Newton und Jakob Böhme. Belgrad 1937. Sánchez de Murillo, Durchbruch der Tiefenphänomenologie. Die Neue Vorsokratik,
Stuttgart 2002, S. 30.
                                                            *

José Sánchez de Murillo unterscheidet drei grundlegende Hauptmomente der Philosophiegeschichte: a) Die Griechische Vorsokratik, b) die vom Philosophus Teutonicus repräsentierte Deutsche Vorsokratik, welche die Tiefenphänomene des Heraklit (das Fließende) und des Parmenides (das Bleibende) zusammen (Un-Grund) als Seiten desselben denkt, und c) die nun aufgehende Neue d.h. „die tiefenphänomenologische Vorsokratik.“

III. Die Neue Vorsokratik (2002)

     Historische Vorbemerkung

A. Abschied vom Elfenbeinturm
     1. Grenzen des Interpretierens
     2. Vergänglichkeit und Unstetigkeit: Fundamentalethik
     3. Die Fundamente des Abendlandes wackeln
          a) Die Verkehrung des Christentums
          b) Die Verengung des Denkens
B. Zurück zum Leben
     1. Das Grab von Malipiero
     2. Malinwska: Das tote Mädchen, das lebt
     3. Exil: Das Wehr von Mundraching
     4. Leben im Aufgang: Die Werkstatt Am Bromberg
     5. Ratjahama: Hervorgang der Lichtgestalt im digitalen Zeitalter
     6. Kosmischer Drang (Sehnsucht und Gier): Was tritt an die Stelle des Menschen?

Ausblick:
 Fundamente einer aufkeimenden Zivilisation
     1. Aufhellung des Christentums
     2. Mythologie des Universums

Historische Vorbemerkung:
Die Behauptung, zur Entstehung der Tiefenphänomenologie hätten „intensive Gespräche“ in Würzburg beigetragen, ist frei erfunden.

Die Lektüre Böhmes und die Erfahrung des Elends in Guatemala wirkten auf Sánchez wie auf Kant die Lektüre Humes. Doch Sánchez erwachte – nicht wie Kant, aus einem dogmatischen, wohl aber aus seinem gutgläubigen Schlummer. Nach der Rückkehr aus seiner ersten Reise nach Mittelamerika 1977 mietete Sánchez ein Häuschen „Am Bromberg“ bei Winterhausen am Main, wenige Kilometer von Würzburg entfernt und vis-á-vis von Sommerhausen, in dessen Turmtheater der Schauspieler Luigi Malipiero (1901–1975) seine Kunst jahrelang vorgetragen hatte. Im Häuschen ohne Strom, mit Propangasbeleuchtung, Wasserbrunnen mit Handpumpe und Holzkamin, verbrachte Sánchez die meiste Zeit – mit seinen Forschungen, Gartenarbeit und langen Spaziergängen, die ihn oft bis zum Grab des Künstlers führten.

A. Abschied vom Elfenbeinturm
Am Bromberg entstand zwischen 1977 und 1980 der erste Entwurf des Projektes, an dem noch gearbeitet wird. Entscheidendes liegt schon vor. Ebenso wird Grundlegendes bald nach und nach folgen. So ist es möglich, das Vorhaben im Wesentlichen zu belegen.

Sánchez Erstlingswerk „Der Geist der deutschen Romantik“ (1985) trägt den Untertitel „Der Übergang vom logischen zum dichterischen Denken und der Hervorgang der Tiefenphänomenologie“. Gemeint ist: Die Philosophie muss von der intellektualistischen Einengung befreit und ins Leben zurückgebracht werden. Rückgang zu den Anfängen – noch vor Plato und Aristoteles. Diese radikale Umkehr kam schon im Untertitel der Habilitationsschrift von 1980 vor: „Franz von Baaders Versuch einer Erneuerung der Wissenschaft. Von Kant zu Jakob Böhme.“ Kant und Böhme als Symbole für zwei Grundformen des Denkens: die traditionell wissenschaftliche und eine andere, ‘mystische’, die sich im Laufe der Geschichte nie ganz durchzusetzen vermochte. Die Erneuerung sollte aber jetzt, zu Beginn des dritten Milleniums, mit Blick auf das erfolgen, was sich in der digitalen Ära ereignet. Dabei setzt Sánchez beim Anfang an: Ist Verstehen überhaupt eine menschliche Eigenschaft? Kann der Mensch aufgrund seiner psychischen, geistigen und leiblichen Verfasstheit sich selbst verlassen und anderes begreifen? Noch unter dem Eindruck seines eigenen Habilitationsdramas, da zehn Gutachter seine Habilitationsschrift entsprechend verschieden beurteilten, aber keiner von ihnen den Sinn traf und angesichts des chaotischen Interpretationsdurcheinanders in Hörsälen und Kirchen, Zeitungen und Labors stellt er die Frage: Wie könnte man Texte lesen, Naturphänomene erforschen, wenn sich dabei der stets von Gefühlen getragene Mensch seiner bescheidenen Möglichkeiten bewusst bliebe? Er versucht, den Interpretationsvorgang zu erhellen:

1. Die Grenzen des Interpretierens.
In der Einleitung seines Erstlingswerkes setzt er sich mit dem Problem der Interpretation auseinander. Dabei geht er der Sache auf den Grund: „a) Über den ursprünglichen Interpretationsvorgang.“ Es wird gezeigt, was beim Lesen eines Textes unmerklich und oft unbewusst mitwirkt, präzise: „die dem menschlichen, von der Vergänglichkeit durchstimmten Erkenntnisvermögen entsprechende Interpretationsmethode.“ Ferner: „b) Die mehrdimensionale Begrenzung des menschlichen Erkennens, c) Der ursprüngliche Interpretationsvorgang. Über die ontologische Wesensart des Geschriebenen. Die Wieder-Holung.“ Zur Erläuterung seiner Auffassung wird eine „Anmerkung: Der Stimmenimitator“ beigefügt. Es ist ein Text von Thomas Bernhard folgenden Inhaltes: Der Künstler, der imstande ist, alle Stimmen zu imitieren, versagt, als er gebeten wird, es auch mit seiner eigenen Stimme zu tun. Der Sinn: Wir können nie beurteilen, ob unsere Urteile zutreffen, weil wir der absoluten Selbstreflexion nicht fähig sind. Niemand kann über seinen eignen Schatten springen, sagt dazu der Volksmund. Was ein Autor von Interpreten bekommt, ist selten eine Klärung seines Gedankens, sondern meistens die Gedankenwelt des Kritikers. Die Kritiker sehen es natürlich nicht so. Sie meinen, es zu treffen, weil sie sich über sich selbst täuschen. So folgte der Revision des Interpretationsvermögens die Schrift „Über die Selbsterkenntnis des Menschen“(1986).

Anm.1: Zur tiefenphänomenologischen absolut entgegengesetzt ist etwa folgende 
Interpretationsauffassung: "Das Unterfangen ist das letzte Kriterium der Interpretation,
wenn auch nicht ein Kriterium der Wahrheit und des Irrtums. Wahrheit und Irrtum gehören
in eine andere Ontologie" (sic!) (Aus: Strukturontologie. Freiburg 1971, S. 139). Dieses
Bekenntnis zur Unverbindlichkeit ist ein Ausgucker, durch den man eine epochale Grundhaltung
– Beliebigkeit als philosophisches Prinzip! – beobachten kann. Dagegen geht
es in Sánchez´ Tiefenphänomenologie entschieden um Wahrheit und Irrtum; es
wird nach dem gesucht, was Dinge und Menschen dem Wesen nach sind, nicht nur nach dem, was sie
strukturell, also der Hülle (Akzidenz) nach zu sein scheinen. Hintergrund und Anliegen der
Philosophie des Scheins wurden seinerzeit (1980-85) bei der Grundlegung der Tiefenphänomenologie
offengelegt, vgl. “Der Geist der Deutschen Romantik", S. 356-358.

Anm.2: Mitte des 20. Jahrhunderts wurde zu einer philosophischen Mode, auf Wahrheit, Werte und
Überzeugungen zu verzichten. Carpe diem! Doch aus der Tatsache, dass dem Menschen
absolute Wahrheit nicht möglich ist, folgt keineswegs der Opportunismus. Dieser ist die défaitistische Lösung einer Zeit der geistigen Schwäche. Nach dem Desaster von
1945 ging es vorwiegend darum, Erfolg (durch "Unterfangen"!) zu haben. Seit dem hat
sich diese Lebensauffassung verbreitet und verankert.
Einen Gipfel erreicht sie, wenn die
Philosophie des Scheins Tiefenphilosophie zu sein beansprucht. Dass das Schauspiel der
V erfolgung grotesk und zwecklos ist, stört nicht (“Wahrheit und Irtum gehören”
ja „in eine andere Ontologie“. Hauptsache: Man mischt mit. Deshalb wechseln Strukturen
ständig die Richtung - auf der Suche nach Profit. Das Interpretationsprinzip des Unterfangens,
der Trick des philosophisch legitimierten Hereinlegens ist das "Fahrzeug", das die Gier
b enutzt, um zu immer mehr Besitz zu kommen. Mit dem, was er hat, ist der Mensch meistens unzufrieden.
gl. José Sánchez de Murillo, Eine Krankheit unserer Zeit. Gier. Augsburg 2018.

Anm. 3: Die im vorliegenden Zusammenhang angesprochenen Erfahrungen im Zeitraum von 1972 bis 1983
in Würzburg erachten wir als hochschulpolitisch- und öffentlichkeitsrelevant. Deshalb
wird zur gegebenen Zeit die Fortsetzung des Berichtes "Zur Entstehungsgeschichte der
Tiefenphänomenologie. Offizieller Bericht"
(Webseite des Edith-Stein-Instituts
München e.V.) aufgrund von einschlägigen Gesprächsprotokollen, Briefen,
schriftlichen Stellungnahmen davon handeln.

Anm. 4: Zum Thema Interpretation noch dieses: Gegen Ende der achtziger Jahre veröffentlichte der Germanist Silvio Vietta
in der “Philosophischen Rundschau” eine Rezension von Sánchez´ Hauptwerk “Der Geist der dutschen Romantik.
Der Übergang vom logischen zum dichterischen Denken und der Hervorgang der Tiefenphänomenologie”.
München 1986. Dabei brachte der angesehene Literaturwissenschaftler das Kunststück fertig,
das eigentliche Thema des Buches, das im Untertitel mit aller Deutlichkeit ausgesprochen wird,
mit keinem Wort zu erwähnen.

2. Vergänglichkeit und Unstetigkeit: Fundamentalethik
Die Dynamik menschlichen Handelns verläuft nach folgenden Momenten: Begeisterung und Steigerung, Gewöhnung, Einengung, Ermüdung, Abgang. Doch obwohl der Mensch wesenhaft unstet ist, beruhen die Gesellschaftsordnungen auf Endgültigkeiten: Heimat, Ehe bis der Tod euch scheidet, Ämter auf Lebenszeit, Priester auf Ewigkeit, usw. Die Fundamentalethik weist auf Möglichkeiten für bewegliche Gesellschaftsformen. Doch auch die Philosophie hält sich für ein überzeitliches Geschäft, selbst wenn sie gelegentlich mit der Vorläufigkeit kokettiert. Die Fundamentalethik entlarvt die Koketterie und bittet zur Sache. Die tiefenphänomenologische Ethik versteht sich aber keineswegs als Moral. Aber sie vertritt – mit kritischem Blick auf Heidegger – die Auffassung, dass dem Sein selbst – mithin auch dem Menschen – eine Tendenz zum Verfallen innewohnt, sodass die Akzeptation der eigenen Begrenzung (philosophische Demut) mit Arbeit an sich selbst verbunden ist. In diesem Sinne heißt es mit kritischem Blick auf Heidegger: „Ontologie (ist) in der uns einzig bekannten Seinszeit nur als Ethik möglich: als Beschreibung des Prozesses der ständigen Wiedereinrichtung.“

3. Die Fundamente des Abendlandes wackeln
Über die Schwächen akademischen Philosophierens hinaus geht es um die Fundamente der abendländischen Kultur. Sánchez stellt kritisch fest: Bei zwei wichtigen Grundsäulen des Abendlandes ist geradezu das Gegenteil von dem verwirklicht worden, was theoretisch verkündet worden ist und immer noch wird.
a) Die Verkehrung des Christentums: Im Artikel „Tiefenphänomenologie der Menschwerdung“, erschienen 2000 im Edith Stein Jahrbuch, zeigt Sánchez, wie es ausgesehen hätte, wenn die Ur-Idee Wirklichkeit geworden wäre. Stattdessen ist bloß ein Weltgeschäft, eine Machtkirche entstanden.
b) Die Verengung des Denkens: Das gleiche ist in der Entwicklung der Philosophie festzustellen, die abendländische Philosophie hat sich verbraucht. Das Grundanliegen, zur Selbsterkenntnis zu kommen und Wahrheit zu finden, hat sich als unfruchtbar – Wiege von Dogmatismen, Korruption und Kriegen – erwiesen. „Die abendländische Geschichte wiederholt das Drama eines Wesens, das unbedingt etwas will, was es nicht kann.“ Die Philosophiegeschichte als Entwicklung einer Einseitigkeit wird in Durchbruch der Tiefenphänomenologie unter den Bezeichnungen „Männlich“ und „Weiblich“ dargestellt: „Erster Abschnitt: Die Ober-Fläche. Vom Wesen des Männlichen“ (S. 31-160). „Zweiter Abschnitt: Vom Wesen des Weiblichen“ (S. 161-338). „Dritter Abschnitt: Die Vereinigung vom Männlichen und Weiblichen und der Hervorgang des Menschlichen“ 338-398). Vergleich: Der Entfernung zwischen der Krippe im Stall von Bethlehem und der Machtkirche entspricht die Entwicklung von Sokrates zu den bezahlten Lehrstühlen der akademischen Philosophie. – Die Verkrustung ist undurchdringbar. Alle Reformen sind auf beiden Seiten gescheitert – mit vielen „Giordano Brunos“, „Jeanne d´Arc“ und Scheiterhaufen als Resultat. Nach Sánchez hilft nur eines: Nichts wie weg! Anderswo ganz anders von vorne anfangen.

C. Zurück zum Leben

1. Das Grab von Malipiero
Des Künstlers Ruhestätte in Sommerhausen wurde zu einem Symbol seiner Forschung, die sich nun literarisch und dichterisch auszudrücken beginnt. Neues Leben kann nur aus dem Tod des alten hervorgehen. Der Gedanke wird in Romanen und Epen bearbeitet.

2. Das tote Mädchen, das lebt
Der Roman Die Krankheiten des Professor Walter (1986) beschreibt den Zusammenbruch eines Gelehrten, der den Intrigen und Machtspielen der Hochschulen nicht gewachsen ist („O akademische Qual!“, Rezension der Augsburger Allgemeinen). Eines Tages lernt der depressive Professor ein junges Mädchen kennen, das ihm hilft, zu sich zu kommen. Nun erfährt er eines Tages, dass das Mädchen vor längerer Zeit gestorben war. Im Friedhof steht sein Grab. Doch das Mädchen Malinwska kommt immer wieder und erläutert ihm den Sinn seiner eigenen Erfahrungen. Malinwska symbolisiert die Neue Vorsokratik, welche die durch die Gier der Akademiker zugrunde gerichtete Philosophie rettet.

3. Die Heimatfindung
Beim Roman Exil (1989) wird der Gedanke verschärft: Dem Menschen ist die Erde fremd geworden, weil die Erde nicht ihre ursprüngliche Heimat ist. Hat der Mensch überhaupt eine Heimat? Der Gedanke der Selbstauflösung des Menschen und der Erde taucht offen auf. Die Handlung spielt sich bei Landsberg und Mundraching (am Lech/Bayern). Dessen Wehr wurde Sánchez wichtig. Hauptpersonen sind der Lehrer Moriones und der galaktisch denkende Maler Kleff. Die Gespräche zwischen beiden Männern und ihren Frauen, die langsame Selbstauflösung der Stadt weisen (unter gelegentlicher Erwähnung Jakob Böhmes) auf den im Verborgenen stets wirkenden philosophischen Grundgedanken: Die Neue Vorsokratik schreitet der Grundsorge der elektronischen Ära entgegen.

4. Das Leben beginnt ununterbrochen
Im Roman Leben im Aufgang (1994) wird der Gedanke in neuer Form entwickelt. Die Handlung spielt sich am Bromberg ab, wo Yamaliel eine Werkstatt für die Herstellung von Bilderrahmen betreibt. Historischer Hintergrund: Ein ähnliches Geschäft betrieb vor Jahrzehnten in Málaga ein Großonkel des Dichters, der dabei von einer unvollendet gebliebenen Liebeserfahrung ausgeht. Doch in der literarischen Bearbeitung verewigt ein Kind Arbeit und unsterbliche Liebe: Es heißt wie der Vater Yamaliel (Laliel). Wer ist Yamaliel? Wie Malinwska auch ein Vorbote von Ratjahama – der neugeborene, erleuchtete Sokrates? Die Gestalten verklären die Wirklichkeit, indem sie die überzeitliche Substanz des Erlebten hervordichten.

5. Ratjahama ist nicht der neugeborene, verklärte Sokrates.
Weder männlich noch weiblich, weder Mensch noch Gott ist Ratjahama eine undefinierbare Lichtgestalt, Klang, dessen ungeahntes Wesen sich erst im durchbrochenen kosmischen Geschehen offenbaren wird.
Es wird gelegentlich angenommen, dass das digitale Zeitalter 2002 begonnen hat. In diesem Jahr 2002 ist der Entwurf der Neuen Vorsokratik in Stuttgart bei Kohlhammer erschienen. Es war kein Zufall. Nach der industriellen Revolution stehen wir bei der digitalen Revolution vor einer neuen, vielleicht noch größeren Herausforderung. Künftig wird die Welt von Menschen regiert werden, die mit Superman, Harry Potter, Star Wars, Zelda, Minecraft usw. aufgewachsen sind. Kinder spielen überall von den ersten Lebensjahren an mit ihren elektronischen Geräten.
Doch so neu alles ist, wird der Mensch nach wie vor von einem alten Phänomen überrollt: Er lässt sich zu schnell blenden, will dann etwas, das er nicht kann. Schon werden wir von Informationen erdrückt. Die Menge sei so groß, berichten Informatiker, dass der Datenberg bis zum Mond – oder gar, übertrieben, bis zum Mars – reichen könnte. Der Mensch verschwindet. Die Technik herrscht. Die Informatik laboriert mit einer neuen Art von Problemen. Man sucht nach Strategien, um mit der massenhaften Speicherung von digitalen Daten umgehen zu können. Beim immer größer werdenden Datenberg gleicht die Suche nach relevanten Informationen der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Der Mensch, die selbsternannte Krönung der Schöpfung, wird immer kleiner, überflüssiger. Aber er ist noch da und fragt trotzdem nach seiner Zukunft. Trotzdem, d.h. obwohl wir nicht wissen, ob er eine Zukunft hat: „Wohin wollen wir mit unseren Daten, wo wollen wir hin mit uns?“ formuliert der Computerhistoriker Michael Mikolajczak die gegenwärtige Sorge.

6. Kosmischer Drang: Was tritt an die Stelle des Menschen?
Als Ergebnis der bisherigen Forschungen hat sich die Notwendigkeit ergeben, die Natur neu zu denken – nicht nur die Natur des Menschen, sondern dem voraus das Wesen der Natur.
In den letzten zwei Veröffentlichungen von Sánchez (Stand April 2018) wird der Mensch als Drang aufgefasst, der ihn nach oben, über sich hinaus, treibt oder ihn nach unten, in den Sumpf, zieht. Das Streben nach oben wird anhand der Sehnsucht erörtert (Sehnsucht in ihrer germanischen Bedeutung, also als Tiefenphänomen gefasst). „Über die Sehnsucht. Urgrund und Abgründe“ (Augsburg 2015). Die Tendenz nach unten wird anhand der Herrschaft der Gier erläutert: „Eine Krankheit unserer Zeit: Gier“ (Augsburg 2018). Die anfängliche Unterscheidung der Tiefenphänomenologie zwischen Tiefe und Ober-Fläche als Grundformen des Seinsvollzuges stiftet ein neues Arbeitsfeld.

IV. Ausblick
Diese letzten Arbeiten legen eine neue Sicht der menschlichen Natur offen. Dadurch wird der Weg für die nächsten Projekte frei. Die betreffen die Grundlagen der Zivilisation.
      1. Das erste Projekt soll zeigen, was aus dem Christentum (als Grundsäule des Abendlandes) geworden wäre, wenn es vom jesuanischen Tiefenphänomen her verwirklicht – statt auf der Grundlage der griechischen Philosophie von Paulus zu einem Machtphänomen umgedeutet – worden wäre.
      2. Das andere Projekt betrifft den Mythos der technologischen Revolution: Daran wird seit über zwanzig Jahren gearbeitet. Einiges liegt bereits als erste Versuche vor: Die Geburt des Ratjahama
(vgl. das Epos Dein Name ist Liebe), die Gesänge „Gotteshervorgang“ (veröffentlicht in den Jahrbüchern „Edith Stein Jahrbuch“ und „Aufgang“), und die Worte des Ratjahama (erschienen im letzten Teil von „Durchbruch der Tiefenphänomenologie“ 2002). Nun wird es ausgearbeitet, um es beim Verlag Aufgang in den nächsten Jahren herausbringen zu können.
        

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